Zu spätnachmittäglicher Oktobertagsstunde blickte Vargas schweigend auf die eichenhölzerne Platte seines Arbeitstisches hinab, auf welcher nichts zu sehen war, außer einem Brief und einem Brocken Salz. Der Salzbrocken lag dort schon seit vielen Jahrzehnten, der Brief hingegen erst seit wenigen Minuten. Letzterer war in diesem einen Moment von größerem, wenn nicht sogar von größtem, Belang. Mehrmals hatte der Händler die paar Zeilen, die ein Freund aus längst vergangenen Jahren ihm gesandt hatte, nun gelesen. Sah sie vor seinem geistigen Augenpaar. Sah die unzähligen Möglichkeiten, die sich dadurch auftaten. Und die Fragen; Die Ungewissheiten! Wer wusste hier im Norden von den Ereignissen in der Hauptstadt, die sich vor wenigen Tagen erst zugetragen hatten? Vorerst wohl nur eine Handvoll Leute, die wie er Kontakte im Süden besaßen und Zugang zu schnellen Pferden. Auch das Ausmaß der Auswirkungen, welche die in dem Brief beschriebenen Ereignisse auf das Königreich und die nördlichen Gebiete im Speziellen haben würden, war kaum abzuschätzen. Klarheit herrschte nur über einen einzigen Punkt.
Ändern würde sich etwas! Alles!
Und Vargas würde davon profitieren. Darüber herrschte vielleicht noch keine Klarheit, aber sehr wohl auch keinerlei Anflug nebelhafter Zweifelsschwaden. Zumindest nicht in den Gedanken des Händlers, als er an einer dünnen Schnur zog, die an der linken Seite seines Arbeitstisches in einer kleinen Öse baumelte. In einem anderen Raum läutete nun eine Glocke. Und nur wenige Augenblicke später reckte ein schon etwas in die Jahre gekommener Mann sein haarloses Haupt in den Raum. Sah Vargas mit wortlos fragender Miene an.
"Finde Jormi und bring ihn her! Ich habe etwas mit ihm zu besprechen! Und zwar schnell, es ist eilig!", befahl dieser.
Der Mann nickte kurz und verschwand wieder. Während er wartete, griff sich Vargas den Salzbrocken, der sich den Tisch mit dem Brief teilte, und trat an eines der drei Fenster, welche die Mauern des Raumes unterbrachen. Das erwählte blickte nach Osten auf ein kleines Waldstück und dahinter gelegene Weingärten. Zumindest tat es das an den meisten Tagen. Die nicht heute waren. Heute, um diese Stunde, blickte es auf undurchdringbare Regenschleier, gemächlich zwischen ihnen herumtanzende Nebel-schwadenreigen und die unlicht darüber thronende Schwärze geballter Sturmwolkengebirgskönige. Eine Weile ließ der Händler sein Augenmerk schweifen über die beinahe solide Regenwand, die sich vor dem Glas des Fensters in grauer Drohung aufbaute und mit abertausenden Tropfenfäusten auf dieses einschlug, bis es ihm schließlich zu lang wurde Wasser beim sturmgebeutelten Fallen zu beobachten und er seine Aufmerksamkeit dem Salzbrocken in seiner Hand zuwandte.
Ihn erkundend betrachtete, von allen Seiten. Wie er schimmerte in dem spärlichen Licht des ersterbenden Kaminfeuers, das sich eher vergeblich damit abmühte den Raum in Licht zu tauchen . In strahlendem Weiß hauptsächlich und etwas Rot, dass nicht recht wusste, ob es nun tatsächlich Rot oder doch eher Orange sein wollte, oder vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Die eine Bruchlinie - prominenter als alle anderen, welche die zerklüftete Oberfläche des Brockens zu einer solcherart geformten machten - mit einem Finger ertastete, der an ihr entlang glitt und...
... ein Klopfen drängte sich mit Getöse vor den Salzbrocken. Lenkte die Aufmerksamkeit des Händlers auf Jormi, der dem nicht unerwünschten Störenfried direkt nachfolgte und sich nach dem Grund seines Hierseins erkundigte. In stummer Einladung verwies Vargas ihn an seinen Arbeitstisch, auf dem nur noch der Brief aus dem Süden allein regierend thronte.
Jormi verstand.
Nahm das Schriftstück an sich. Las es.
Hüllte sich in beredtes Schweigen. Wirkte nachdenklich. Las es abermals, vertiefte sich in die Worte.
"Kann man dem Verfasser trauen?", verlangte er schließlich zu wissen nach einer Weile, die sein Schweigen beinahe zu etwas Körperlichen, etwas Erdrückenden, hätte mutieren lassen.
"Konnte man bisher! Immer!", antwortete Vargas. Er stand noch immer vor dem Fenster und dem grauen Regenbauwerk. Sah jedoch nicht mehr aus dem Raum hinaus, sondern vielmehr in diesen hinein.
"Gehe ich recht in der Annahme, dass dir einleuchtet, was dieses Worte über die Sache im Süden für uns bedeuten könnten?"
"Durchaus!", bestätigte Jormi.
Vargas sah ihn wartenden Blickes an. Auffordernd!
"Wenn wir die nächsten Tage und Wochen das Richtige machen, können wir in den kommenden Monaten mehr verdienen als in den letzten zehn Jahren zusammen!", fuhr er fort. Sah nochmal auf das Stück Papier hinab, das er in der Hand hielt. Beinahe furchtsam! Als würde das Blatt im nächsten Augenblick monumentale Fresswerkzeuge entwickeln und ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Oder sonst irgendetwas, von ähnlicher Entsetzlichkeit!
Dem Händler blieb der Blick, wohl eingebettet in einen Gesichtsausdruck, der Ähnliches hinausschrie, nicht verborgen. Er lächelte leicht.
"Wir beide wissen, dass du der Talentierteste meiner Leute bist. Also ich wusste es und du weißt es jetzt auch! Ich will dich als vollwertigen Partner in dieser Sache haben. Fünfzig, Fünfzig!"
Jormi nickte nur und sagte nichts weiter dazu. Wartete!
Ein weiteres Mal richtete der Händler das Licht seiner Aufmerksamkeit auf den Salzbrocken, der sich noch immer in seiner Hand befand. Zweiunddreißig Jahre und hundertvierunddreißig Tage besaß er ihn nun schon, diesen kleinen weißlich-roten Stein. Eigentlich war seine Mutter Schuld daran, sie war es schließlich gewesen, die ihm von den Worten der Wahrsagerin erzählt hatte. Von Worten, die besagten, das Salz sein Leben bestimmen würde. oder so ähnlich; Ganz sicher konnte sich Vargas des exakten Lautes dieser nicht mehr entsinnen, er und sie kauerten wohl verborgen irgendwo hinter dem jahrzehnte-schweren, aber nichtsdestotrotz erstaunlich klaren Bild der Erinnerung an diesen einen Tag vor mehr als dreißig Jahren.
An den hölzernen Verkaufstand, der darauf zu sehen war, gemalt in dunklen braunen Farben. Beißend kontrastiert vom Weiß-Blau des Segeltuches, dem die Aufgabe auferlegt worden war Dach zu sein. An die beiden Verkaufsweiber, eine grauhaarige Alte und eine zweite, die wohl ihre Tochter war und dazu die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Noch Jahre später hatte sie ihn seinen Träumen heimgesucht. An den Haufen wertlosen Tand, den sie den Leuten unterjubeln wollten, reich begleitet von himmelblau-schönen Worthülsenansammlungen.
Und an den weißen Brocken, der unter all dem vergraben lag. Niemand hatte dem unscheinbaren weißen Etwas auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Nur Vargas! Hatte ihn mitten in all dem anderem Zeug erspäht.
Ein paar Münzen in Richtung der jungen Frau geworfen.
Den Brocken in eine der Taschen seines Mantels gesteckt und sich daran gemacht, seiner Wege zu gehen. Eine Laune, geboren aus schicksalstrunkener Gedankenlosigkeit. Nicht mehr!
"Diesen Stein habe ich erstanden, noch bevor deine Mutter dich geboren hat, Jormi!", erklärte der Händler schließlich murmelnd. "Weißt du warum ich das getan hab? Vor all diesen Jahren? Weißt du es?"
Jormi wartete und schwieg.
"Nein?" Vargas schmunzelte. Erleichtert.
"Gut! Das ist gut, wirklich!"
Gemächlich tat er die paar Schritte von dem Fenster, das nach Osten blickte, zu dem Kamin, der nur noch einen Haufen schwach glühende Asche beherbergte und die kümmerlichen Reste eines beinahe vollständig verkohlten Holzscheits, an welches sich eine einzelne kleine Flamme mit letzter, unruhig flackernder Kraft klammerte.
Sah die Flamme einige lange Augenblicke an. Seufzte tief.
"Ich nämlich auch nicht!"
Und warf den Salzbrocken hinein in den Kamin. Wartete!
Bis von dem Wurfgeschoss nichts mehr als eine ferne Erinnerung übrig war. Bis die nichtfeuerfarbenen Flammen, die dem langsamen Vergehen in knisternder Ehrerbietung beigewohnt hatten, wieder in der Asche versanken.
Und nichts weiter geschah.
Kein Loch tat sich im Boden des Raumes auf, um den Händler zu in einen Schlund aus Dunkelheit und todbringender Unendlichkeit zu schlingen. Kein greller Blitzspeer zuckte aus dem gewitterwolken- verhangenen Himmelszelt durch die tropfenfäuste-bewehrte Wand aus Regen und Nebel, um ihn zu durchbohren. Ihn vollständig vom Antlitz der Erde zu tilgen.
Nichts!
Drei-Jahrzehnte-schweres Nichts!
"Was hab ich auch erwartet! Dummer Aberglaube!", meinte er leise, nur zu sich selbst. Jormi hörte es trotzdem. Stimmte ihm ebenso leise murmelnd zu. Fast, als hätte er dessen Gedanken gelesen wie den Brief aus dem Süden.
Trat hinter den Händler und beteiligte sich an seinem Starren in das Innere des Kamins, wo in diesem Moment die eine verbliebene Flamme endlich des letzten Funkens Kraft verlustig ging und ihr Lebenslicht aushauchte. Den Raum hysterisch kreischender Stille und tränengrauem Zwielicht anheimgab. Von dem Salzbrocken war jeglicher Rest verschwunden. Hatte sich in grauen Rauch aufgelöst.
"Dummer Aberglaube!"
Sprach dies, zückte eine verborgene Klinge und stieß sie Vargas in den Rücken.